‚Eigenvideos’ entstehen in der Regel, wenn Ausbildungsunterricht
videografiert wird. Diese Aufzeichnungen werden häufig unmittelbar
nach dem Unterricht besprochen, so dass digital aufbereitete Begleitmaterialien
nicht zur Verfügung stehen. ‚Eigenvideos’ setzen die Bereitschaft
angehender Lehrer/innen voraus, ihren Ausbildungsunterricht videografieren
zu lassen. Alsdann müssen die zeitlichen und materiellen
Ressourcen zur Verfügung stehen, die bei der Herstellung
und Aufbereitung von ‚Eigenvideos’ schon recht aufwändig
sind. Und nicht zuletzt muss das Knowhow vorhanden sein, um ‚Eigenvideos’
aufzunehmen und digital zu verarbeiten (schneiden, rendern und
transcodieren).
All diese Bedingungen entfallen bei der Nutzung von ‚Fremdvideos’
und vorgefertigten multimedialen Unterrichtsdokumente. Sie sind
nur noch mittels Notebook und Beamer zu präsentieren - was
lange Zeit auch nicht selbstverständlich war, inzwischen
aber in jedem Ausbildungsstandort zum gängigen Repertoire
gehören dürfte. Auf vielen Webseiten werden videografierte
Unterrichtsvorhaben mit oder ohne Begleitmaterialien angeboten,
in denen Einzelstunden oder Szenenepisoden von Lehrern aufgenommen
worden sind, die den Betrachtern im Rahmen von Lehrveranstaltungen
unbekannt sind.
Zwischen ‚Eigenvideos’ und ‚Fremdvideos’ gibt es eine Art ‚Arbeitsteilung’:
Sie eröffnen unterschiedliche Möglichkeiten zur theoriegeleiteten
Auseinandersetzung mit Unterricht.
Vorzüge einer Beschäftigung mit ‚Fremdvideos’ in der
Seminararbeit:
* ‚Fremdvideos’ ermöglichen ein offenes
Gespräch über ‚fremden‘ Unterricht ohne strategische
Rücksichtnahme, weil die unterrichtende Lehrkraft unbekannt
ist.
* Weil die Person des Unterrichtenden nicht bekannt ist, fällt
es leichter, unterrichtskonzeptionelle und unterrichtsstrukturelle
Fragen in den Vordergrund zu rücken.
* Zurückgegriffen werden kann auf Begleitdokumente wie
Wortprotokolle und Schülerarbeitsergebnisse, die bei ‚Eigenvideos’
in der Regel fehlen.
* ‚Fremdvideos’ erweitern das eigene Repertoire (Kennenlernen
bislang unbekannter Konzepte und Methoden, Unterrichtsstile
sowie von Bewältigungsstrategien, mit denen die Lehrkräfte
auf überraschende Unterrichtsentwicklungen reagieren).
Andererseits bietet die Arbeit mit ‚Eigenvideos’ wiederum Möglichkeiten,
Ausbildungsziele anzustreben, die mit ‚Fremdvideos’ nicht erreicht
werden können:
* Sich selbst wie eine fremde Person in einem Film sehen zu
können, ist eine eindrucksvolle Erfahrung. Jeder, der das
erste Mal eine Videoaufzeichnung von sich selbst als Unterrichtendem
sieht, entdeckt in dieser Außenperspektive Eigenarten
an sich, die er vorher nicht bemerkt hat und die er/sie sonst
wohl nie bemerken würde (z.B. sprachliche Marotten, Besonderheiten
der Körpersprache). Durch Videofeedback fällt es leichter,
störende Eigenarten zukünftig zu vermeiden.
* Ein ‚Eigenvideo’ offenbart Probleme bei der Unterrichtsführung
(z.B. übersehene Schülermeldungen, nicht mitarbeitende
Schüler, ungünstige Reaktionen auf ungewöhnliche
Schülerbeiträge, häufiges Lehrerecho), die man
nicht unbedingt als gegeben akzeptieren würde, wenn man
sie von einem hospitierenden Beobachter hinterher bloß
mitgeteilt bekäme.
* Das Video gibt Anhaltspunkte, wie man auf Schüler wirkt.
Wer sich selbst im Video gesehen hat, wird oft seine Einschätzung
darüber revidieren, wie er auf die Unterrichteten wirkt.
* Erstaunlich ist für den gefilmten Lehrer bei der gemeinsamen
Betrachtung des Eigenvideos im Seminar die doppelte Differenz
zwischen dem eigenen Selbstbild und dem im Video gespiegelten
Fremd-Ich einerseits sowie dem von Zuschauern berichteten Fremd-Bild
andererseits.
* ‚Eigenvideos’ bieten einen günstigen Anlass, um in einem
Seminar über implizite Vorstellungen von Gutem Unterricht
und die eigene Auslegung der Lehrerrolle ins Gespräch kommen.
Zur kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Unterricht
führt demnach kein Weg an ‚Eigenvideos’ vorbei.